Marmorliebe
Sie
zieht heute dieses Geschirr an, welches ich ihr einst per jungreifen Boten
überbrachte. Aus Blech, Eisen, Kohle und Gold. Ich stehe am Fenster. Die
Atemwege beschlagen das Sicherheitsglas zur Außenwohnanlage. Menschen mit dem
ausgeprägten Sinn für das Schöne haben hier einen Park angelegt. Mit
Rabenskulpturen. Mit Menschen mit gepflegten langen Haaren und Spangen. Ein
paar von uns sitzen auf neuen kalten Bänken und bedanken sich für die
Schmerzen. Manche trinken aus Kelchen geweihtes Wasser. Andere leeren sich in
Pokalen. Sie steht da mit ihrem Geschirr und zeigt sich der Allgemeinheit. Sie
trägt einen Stahlhut mit roten Federn. Sie möchte bewundert werden. Nein: sie
will bewundert werden. An Herzverfettung leidende Singvögel umkreisen sie. Wir
alten Menschen neigen dazu, die Vögel mit Speck zu füttern. Sperlinge z.B.
sterben daran.
Sie
zeigt sich allen. Das macht mich eifersüchtig. Schließlich überbrachte ich ihr
dieses Geschirr. Das Geschirr ist quasi ich. Und sie ist in diesem Geschirr. Sie
ist dabei so unvergleichlich endgültig. Sie schreitet mit Marmorblöcken an den
Füßen. Sie schreitet mit diesen Marmorblöcken und trotzdem fast lautlos. Sie
lässt sich mit Rabenskulpturen fotografieren. Keith ist einer ihrer Fotografen.
Er war früher Gitarrist. Er machte aus dem Entengang den Sprung in den
Atlantik.
Mich
hält es nicht mehr am Fenster. Ich schleiche mich an den Pflegern vorbei und
besorge mir Amadeus Salz. Es beruhigt die Nerven. Wir nennen es so: Amadeus
Salz. Keiner weiß warum. Es ist einfach so, dass in Sozialstrukturen wie dieser
eine eigene Sprache entsteht. Dr. Schmidt hat immer genügend da. Wie der Doktor
wirklich heißt, dass wissen wir nicht. Auch nicht, ob er ein Doktor ist. Wir
nennen uns irgendwie. Mich nennen sie Jonathan. Dies war aber auch schon früher
so. Ich will zur Marmorliebe - ihr Geschirr mit meinem Brillentuch putzen. Ich
will den Goldpreis eruieren. Ich will sie fragen, ob sie mit mir den heiligen
Gral der goldenen Sonntagsbrötchen betreten will. Oder ob sie später als
Baumschmuck am großen Baum der Liebe gefesselt sein mag. Er steht mitten in der
Empfangshalle für Angehörige. Es ist Vorweihnachtszeit. Und Weihnachten ist
schließlich das Fest der Liebe.
Bruno,
dieses brutale Schwein – stellt sich mir in den Weg. Bei Scha - weinske gab es
immer Italoschwein – dies waren noch Zeiten. Bruno ist der Aufpasser. Er
möchte, dass ich nicht wieder Rabatz mache da draußen und über Miederinhalte
singe. Dabei ist mein Gesang durchaus beachtlich. Ich kann den ganzen
Scheißladen zusammenscheißen und auch schreien. Er packt mich immer am dünnen
Oberarm und macht mir Blutergüsse. Wenn er mich jetzt nicht durchlässt, spucke
ich ihm Blut auf den weißen Pflegekittel. Dies mache ich solange, bis der Arzt
kommt. Aber Bruno lässt mich durch, nachdem mir doch noch das Passwort
einfällt. Er streichelt mir sogar die Wange und berührt mich mit seinem hart
beharrten Gesicht. Ein Gesicht ohne Empathie und soziale Intelligenz, wie man
hier sagt. Dem haben sie nur den Job gegeben, weil er drei bis vier renitente
Menschen gleichzeitig physisch in den Begriff bekommt. Seine dienstlichen
Umarmungen verursachen schwere Verletzungen, besonders an der Seele.
Ich
stehe nun also auch in unserem Garten, unserem Park und kann zu meiner Marmorliebe,
die bis eben grade noch vor Keith und seiner Kamera posierte. Keith sitzt jetzt
auf einer Bank und schlägt die Laute. Selbst dabei sieht er so geil aus wie
früher auf der Bühne.
Ich
stehe vor Marmorliebe. Sie spendet mir ein wenig Blut aus ihrem Mund. Schwester
Irmgard berührt zart meine Hand und bittet mich wieder reinzugehen. Zuviel
Emotionen wären nicht gut – Marmorliebe verwelke grade.
„Sie
sind doch gar keine examinierte Kraft!“, empöre ich mich. Doch Irmgard lächelt
mich so überzeugend und lieb und porzellangleich an, dass ich nicht anders
kann, als ihr zu folgen.
Es
ist bald Weihnachten. Und Kinder singen im Chor. Im Fernsehen läuft bestimmt
wieder Winnetou, oder „Die drei von der Tankstelle“ oder ein altes Konzert mit
Keith und seinen Mannen von früher.
14.
Dezember 2017